Geiger, Arno: Der alte König in seinem Exil
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Arno Geiger. Foto: APA/Helmut Fohringer |
Arno Geiger thematisiert in seinem jüngsten Buch die Demenzerkrankung seines Vaters – und setzt darin Maßstäbe für ein neues literarisches Genre.
Mit Prognosen sollte man vorsichtig sein, vor allem im Bereich der Literatur. Kaum jemand ist eigenwilliger als Autoren, deren Kunst ja gerade darin besteht, ihre Werke als individuelle geistige Schöpfungen zu gestalten. Und wer glaubt, Schriftsteller müssten schon längst dieses oder jenes Thema bearbeitet haben, weil es "unter den Nägeln brennt", wird häufig enttäuscht werden. Noch immer hofft man etwa auf den großen gesamtdeutschen Roman, dabei gibt es den längst, nur eben als die Summe all der "kleineren" Romane, die gar keine Lust haben, aufs Ganze zu gehen.
Klar ist aber auch: Literatur bewegt sich nicht in einem abgeschotteten Raum, sondern inmitten von Gesellschaft, Politik und Lebenswelt. Deshalb sei durchaus eine Prognose gewagt: In den nächsten Jahren ist eine deutliche Zunahme von Büchern zu erwarten, welche die Demenzerkrankung eines Elternteils zum Thema haben werden. Schon heute leiden in Österreich rund 100.000 Menschen unter Demenz (bei den über 80-Jährigen jeder Vierte); ihre Zahl soll sich in den nächsten 40 Jahren verdoppeln. Die einschneidende Erfahrung, die Mutter oder den Vater schon vor deren Tod weitgehend zu "verlieren" – zumindest als Bezugspersonen mit einer gemeinsamen Geschichte –, wird immer mehr Angehörige betreffen.
Natürlich werden unter diesen Büchern viele Erfahrungsberichte der herkömmlichen Art sein. Aber schon jetzt wird in Umrissen ein eigenes Genre erkennbar – persönliche Berichte, die nicht nur das eigene Befinden thematisieren, sondern sich auch in den Kranken hineinzuversetzen suchen; die deutlich machen, welch existenzielle Fragen mit dieser Krankheit verbunden sind.
So legte Jonathan Franzen 2001 einen bemerkenswerten Essay über das "Gehirn meines Vaters" vor (auf Deutsch 2002, in dem Band "Anleitung zum Einsamsein" enthalten); 2006 veröffentlichte der niederländische Schriftsteller Cyrille Offermans "Warum ich meine demente Mutter belüge", ein ergreifendes Buch, das leider deutlich weniger Resonanz fand als Tilman Jens’ "Abschied" (2008) von seinem in der Demenz versinkenden Vater Walter Jens.
Und nun also Arno Geigers Buch über seinen an Alzheimer erkrankten Vater, der rat- und rastlos durch die Tage irrt, "wie ein alter König in seinem Exil".
"Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen. Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus. Die Persönlichkeit sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus. Noch ist das Gefühl, dass dies mein Vater ist, der Mann, der mitgeholfen hat, mich großzuziehen, intakt. Aber die Momente, in denen ich den Vater aus früheren Tagen nicht wieder erkenne, werden häufiger." Nicht nur das: Auch der Vater erkennt den eigenen Sohn nicht mehr als solchen.
Und doch besteht zwischen beiden eine Nähe fort, die offenbar tiefer reicht. "Es trifft mich immer unvorbereitet, wenn mir der Vater mit einer Sanftheit, die mir früher nicht an ihm aufgefallen war, seine Hand an die Wange legt . . . Dann erfasse ich, dass ich nie enger mit ihm zusammen sein werde als in diesem Augenblick." Es ist freilich kein einfacher Weg hin zu der Erkenntnis, "dass man für das Leben eines an Demenz erkrankten Menschen neue Maßstäbe braucht".
Arno Geiger gelingt in seinem Buch vieles zugleich: Es ist eine Liebeserklärung an den Vater, es ist das Dokument eines mühsamen Lernprozesses auf Seiten des Sohnes, es ist aber auch – dies wohl am eindringlichsten – der Versuch, zumindest ansatzweise in den geistigen Kosmos eines Demenzkranken vorzudringen und zu verstehen, was vorgeht mit und in einem Menschen, der durchaus vital, aber gerade dabei ist, seine eigene Geschichte, seine Identität zu verlieren. Manche trösten sich gerne mit der Vorstellung, ein Alzheimerpatient nehme sein Leiden gar nicht so negativ wahr, weil ihm ja das "Bewusstsein" dafür fehle. Doch das ist nur ein Aspekt dieser Krankheit.
Geiger schildert auch die beklemmende Unruhe, mit der sein Vater zu kämpfen hat, die tiefe Angst und nicht zuletzt eine fürchterliche Unbehaustheit, wenn der Vater im eigenen Haus, in dem er seit Jahrzehnten lebt, plötzlich ständig davon spricht, er wolle jetzt bitte nach Hause gehen.
Auf der anderen Seite gibt es den "fröhlichen Greis", der in seiner eigenen Welt lebt und mit dem man am besten spricht, indem man sich auf diese seine Wirklichkeit einlässt. Dann entwickeln sich Dialoge zwischen Vater und Sohn, wie sie witziger, "schräger" und doch tiefsinniger kaum sein könnten. Ein Thomas Bernhard hätte seine Freude an diesen Gesprächen gehabt, die Arno Geiger zu unserem Glück reichlich zitiert. "Hast du Angst vor dem Sterben?", fragt etwa der Sohn, worauf der Vater erwidert: "Obwohl es eine Schande ist, es nicht zu wissen, kann ich es dir nicht sagen."
Arno Geigers Buch hat schon jetzt Maßstäbe gesetzt in einem Genre, das uns so schnell nicht abhanden kommen wird – Maßstäbe, die nicht nur die sprachlich-poetische Eindringlichkeit seines Textes betreffen, sondern vor allem die Haltung, die Empathie, die Offenheit gepaart mit Liebe, mit der er dem alten König in seinem Exil noch zu Lebzeiten nahe zu kommen sucht. "Ich wollte nicht nach seinem Tod von ihm erzählen, ich wollte über einen Lebenden schreiben, ich fand, dass der Vater, wie jeder Mensch, ein Schicksal verdient, das offenbleibt."
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